Montag, 5. Oktober 2015

Langsam aber sicher sinkt ihr Stern

Thema: Flüchtlinge

Flüchtlingskrise
Merkel-Deutschland gerät ins Wanken

Die Flüchtlingskrise wird unsere Politik "gravierend ändern", mahnt Angela Merkel. Damit dürfte die Kanzlerin recht haben, auch wenn ihr das nicht recht sein dürfte. Die Zeiten, als sich Probleme in Merkel-Deutschland scheinbar von selbst lösten, wenn man nur lange genug wartet, sind vorbei. Was in diesem Land vor kurzem noch als unverrückbar galt, ist in Bewegung. Auch Merkel selbst ist betroffen.

Die Kritik an der Kanzlerin wird immer lauter. Neben massivem Gegenwind aus den eigenen Reihen hat im Zuge der Flüchtlingskrise auch das Ansehen Merkels bei den Wählern gelitten. Ihre Umfragewerte sinken stetig, auch die Union verliert an Zuspruch. Das Bild der unantastbaren Regierungschefin bekommt erste Risse. Ein "Wir schaffen das" ist ihr schon länger nicht mehr über die Lippen gekommen.

Dass Kanzleramtsminister Peter Altmaier zuletzt ausdrücklich betonte, er habe "keinen Zweifel" daran, dass Merkel ihre Legislaturperiode zu Ende bringe, zeigt: Auch im Kanzleramt werden die Verschiebungen wahrgenommen und man sieht sich zum Gegensteuern gezwungen. So sprang auch Innen-Staatssekretär Günter Krings (CDU) Merkel zur Seite, indem er betonte: "Die Kanzlerin braucht keine Nachhilfe." Das ist neu: Bis vor kurzem prallten Angriffe noch fast spurlos an Merkel ab - mittlerweile sind die Kanzlerin und ihr Umfeld dünnhäutiger geworden.

Deutsche Gesellschaft spürbar im Umbruch

Doch nicht nur die Kanzlerin, auch die deutsche Politik und die Gesellschaft befinden sich spürbar im Umbruch. Erinnerungen werden wach: 25 Jahre nach der Wiedervereinigung steht Deutschland wieder an einem Scheideweg. Der Andrang Hunderttausender Flüchtlinge, verbreitete Ängste vor Überforderung, verunsicherte Nachbarn in der EU - die Politik steht unter Druck, einfache Antworten gibt es nicht.

Auf der einen Seite steht die ungeahnte Welle der Solidarität mit den Menschen, die aus den Kriegs- und Krisengebieten nach Deutschland kommen. Auf der anderen Seite werden die Probleme immer drängender. Bundespräsident Joachim Gauck hat es auf den Punkt gebracht: "Unser Herz ist weit. Doch unsere Möglichkeiten sind endlich", hat er das Dilemma geschildert, vor dem Politiker, öffentliche Verwaltungen und Bürger stehen.

Viele, sehr viele Bürger in Deutschland bekommen dies mittlerweile zu spüren. Turnhallen in den Schulen werden zu Notunterkünften umfunktioniert, Zeltstädte in Parks oder am Stadtrand aufgebaut, neue Containerdörfer entstehen an Orten, wo vor kurzem noch Reihenhäuser geplant waren.

Beängstigende Parallelen zu den frühen 90ern

Der anfänglichen Hilflosigkeit der Politik steht eine spontane Welle der Hilfsbereitschaft von Bürgern gegenüber, die anhält. Die Bilder der applaudierenden Menschen, die Anfang September die Flüchtlinge aus Ungarn auf deutschen Bahnhöfen in Empfang nahmen, haben sich in das kollektive Gedächtnis eingebrannt. Die Bilder sind um die Welt gegangen. Und es wurden Erinnerungen wach - an jene kalte Novembernacht 1989, als Tausende nach dem Fall der Mauer die Trabi-Kolonnen mit Applaus begrüßten.

Keine drei Jahre nach dem Fall der Mauer ging im August 1992 in Rostock-Lichtenhagen ein Wohnheim für Ausländer in Flammen auf. Tagelang randalierten Rechtsextreme vor der Asylbewerberunterkunft, angefeuert von applaudierenden Bürgern am Straßenrand. Die Krawalle, die das Bild Deutschlands im Ausland lange Zeit prägen sollten, fielen in eine Zeit, in der die Asylpolitik das am heftigsten diskutierte Thema in Deutschland war.

Auch damals, Anfang der 90er Jahre, kamen Hunderttausende Menschen im Jahr nach Deutschland. Die Debatte wurde hitzig geführt, und populistisch. Am Ende wurde das Grundrecht auf Asyl eingeschränkt. Auch aktuell denkt die Regierung darüber nach, etwa Flüchtlinge direkt an der Grenze zu prüfen.

Solingen, Hünxe, Hoyerswerda, Mölln - mehrere Dutzend Ausländer wurden damals in Deutschland ermordet. Anschläge auf geplante Flüchtlingsunterkünfte, Übergriffe und Krawalle eines rechten Mobs hat es auch in den vergangenen Wochen gegeben. Doch diesmal ließ die Antwort der Zivilbevölkerung nicht auf sich warten. In vielen Orten hat sich Widerstand formiert. Und vielerorts zeigt sich ein Engagement, das seinesgleichen sucht.

Der Blick auf Deutschland hat sich verändert

Wie sich die Stimmung entwickelt, ist ungewiss. Niemand weiß, wieviele Flüchtlinge noch kommen werden, wieviele in den Arbeitsmarkt integriert werden können. Viele werden zunächst arbeitslos sein. Es fehlt an Kitaplätzen, Schulen, Wohnungen. Viele Zuwanderer sind Muslime. Was passiert, wenn sich neue Parallelgesellschaften bilden?

Dass Deutschland von 2015 ist nicht mehr das Deutschland von 1990 - darin sind sich Politiker und Politologen einig. Die Sehnsucht, mit der Flüchtlinge aus den Krisengebieten der Welt auf Deutschland blicken, hat auch den Blick vieler Deutscher auf ihr Land verändert. Dass so viele Flüchtlinge gerade nach Deutschland wollten, darauf könne man ja auch stolz sein, hat Merkel gesagt. Und hat wohl wieder einmal recht.

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Quelle: t-online.de

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